Glück gehabt

Ich hab großes Glück gehabt. Ok. Wahrscheinlich denkt ihr momentan eher das Gegenteil. Aber es kommt immer darauf an, aus welcher Richtung man denkt.

Letztes Jahr war ich mit Mama zum ersten Mal in einer Klinik in Bayern, in die ganz viele Kinder kommen, die anders sind als andere.

Dort war es richtig toll. Ich hatte jeden Tag mehrere Therapien. Aber das Beste ist, dass dort so viele Kinder sind. Da ist immer was los, und es gibt ganz viel zu beobachten. Mama und ich haben dort viele Freunde gefunden. Einen Jungen mochte ich besonders gern, weil er mir ganz ähnlich ist, nicht weglaufen kann und weil ich mich mit ihm ohne Worte verständigen kann.

Bei all diesen Kindern ist irgendwann mal irgendwas schief gelaufen. Bei manchen war der Fehler sozusagen schon im Bauplan oder ist ganz früh beim „Zusammenbau“ passiert.

Einige Kinder waren aber auch erst mal kerngesund, bis irgendwann in ihrem Leben irgendwas ganz Blödes passiert ist. Ein Unfall, eine schlimme Krankheit, ein Anfall – oder einfach nur, dass sie brechen mussten und sich dabei so schlimm verschluckt haben, dass ihnen zu lange die Luft weggeblieben ist und ihr Gehirn – wie bei mir – zu wenig Sauerstoff bekommen hat und kaputt gegangen ist.

Und wenn ein Kind, das gestern noch herumgelaufen ist, sprechen konnte und ein ganz normales Leben geführt hat, das mit einem Schlag alles nicht mehr kann, ist das für das Kind und seine Eltern und für alle, die es kennen und lieb haben, noch viel viel schlimmer, als wenn man das sowieso nie gekonnt hat.

Ehrlich gesagt leide ich nicht so sehr darunter, dass ich nicht mit den anderen Kindern herumlaufen, spielen und reden kann, weil es einfach schon immer so war. Ich kenne es eben nicht anders. Ich finde immer andere Wege, um Spaß zu haben und mich am Leben zu erfreuen.

Schlimmer geht’s immer

Und auch, wenn ihr vielleicht denkt, was könnte denn noch schlimmer sein als nicht laufen, sprechen, essen und normal mit anderen Kindern spielen zu können, glaubt mir: es geht immer noch schlimmer!

Es gibt Kinder, die dauernd mit Sauerstoff beatmet werden müssen, Kinder, die schwer krank sind und immer starke Medikamente nehmen müssen, Kinder, die zig epileptische Anfälle am Tag haben, gegen die keine Medikamente helfen.

Oft müssen solche Kinder Tag und Nacht beobachtet werden. Weil die Eltern das allein gar nicht schaffen können, muss ein Pflegedienst nach Hause kommen, also eine Krankenschwester oder ein Pfleger, der sich um das Kind kümmert. Von Urlaub oder auch nur Ausflügen oder im Restaurant essen gehen, können diese Familien oft nur träumen. Manche dieser Kinder kommen kaum raus, und wenn, dann haben sie eine halbe Intensivstation dabei.

Und es gibt Krankheiten, bei denen alles immer schlimmer wird. Bei denen zum Beispiel immer mehr Gehirnzellen kaputtgehen. Dann verlernen die Kinder nach und nach alles wieder, was sie mal konnten, und werden nicht sehr alt.

Also noch mal: Ich habe großes Glück gehabt, und dafür bin ich sehr dankbar!

Wofür ich dankbar bin

Ich bin dankbar, dass ich keine Medikamente brauche, kein Sauerstoffgerät und keine Krankenschwester, die an meinem Bett wacht.

Und ich habe was im Köpfchen. Dafür sind meine Eltern und ich auch sehr dankbar. Ich kann zwar nicht sprechen, weil mein Mund die Worte nicht formen kann, aber ich verstehe immer mehr und begreife auch Spiele und Aufgaben, die man mir erklärt, und kann zum Teil schon den Gesprächen von Erwachsenen folgen.

Das Gute ist, dass es heutzutage ganz tolle technische Geräte gibt, mit denen man laufen oder sprechen kann. Und wenn ich kapiere, wie die funktionieren, kann ich fast alles lernen.

Noch eine Sache, für die ich dankbar bin, ist, dass ich keine Epilepsie habe, denn das ist eine Krankheit, die sehr häufig bei Leuten mit einer Gehirnschädigung vorkommt, und sehr viele von den Kindern in dieser Klinik haben sie. Ein epileptischer Anfall ist wie ein Gewitter im Gehirn, und die „Blitze“ lösen Bewegungen aus, die man nicht kontrollieren kann. Das ist dann ein epileptischer Anfall. Allerdings könnte ich diese Krankheit immer noch bekommen. Also drückt bitte alle ganz fest die Daumen, dass ich davon verschont bleibe!

Denn sonst wären einige Sachen, die ich jetzt zum Glück noch ohne Probleme mit meinen Eltern machen kann, nicht mehr so einfach. Womit ich nämlich auch echt Glück gehabt habe, das sind meine Eltern!

Meine Eltern

Die Leute sagen oft zu uns, „Ein Kind sucht sich seine Eltern aus“. Also, ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich da jemand gefragt hätte. Es hat mich ja auch keiner gefragt, ob ich so sein will wie ich bin.

Aber WENN mich jemand gefragt hätte, hätte ich mir genau die Eltern gewünscht! Sie passen nämlich total gut zu mir und ich zu ihnen: sie sind gern unterwegs. Jedes Wochenende machen wir Ausflüge oder gehen zumindest spazieren, und wir gehen alle gern ins Restaurant, ins Café oder in die Eisdiele.

Wie ihr euch vielleicht denken könnt, interessiere ich mich dabei weniger fürs Essen, denn das haben meine Eltern für mich sowieso immer dabei und können es mir fast überall geben. Nein, viel interessanter ist es, die Leute zu beobachten. Wenn die Bedienungen hin und her laufen, Sachen auf den Tisch stellen und wieder wegräumen, finde ich das oberlustig!

Heulen oder meckern tu ich im Restaurant so gut wie nie. Es kann höchstens mal sein, dass die Leute sich gestört fühlen, weil ich so laute Freudenschreie ausstoße! Aber das sind dann sowieso die, die zum Lachen in den Keller gehen. Die meisten freuen sich mit mir.

Meine Eltern finden auch, dass sie sich mit mir nicht verstecken müssen und dass jeder Mensch ein Recht hat, unter Leuten zu sein. Sie denken auch nicht mehr darüber nach, ob die anderen komisch gucken, wenn sie mir mein Essen mit der Spritze in meinen Schlauch im Bauch geben.

Bis jetzt haben wir aber auch fast nur gute Erfahrungen gemacht. Manche tun zwar so, als wäre ich gar nicht da, was auch nicht schlimm ist, aber die meisten sind nett und lachen mit mir. Ich muss aber auch zugeben, dass ich hier noch einen Vorteil gegenüber manchen anderen habe: die Leute finden mich nämlich meistens total süß.

Okay, da ist die Sache mit dem Sabbern und Röcheln, das stört manche ein bisschen, aber es ist für die Leute natürlich viel leichter, ein hübsches Kind anzulächeln als eins, wo man eigentlich lieber weggucken will, was für solche Kinder (oder Erwachsenen) richtig blöd und echt traurig ist, denn jeder schaut gern in freundliche, lächelnde Gesichter!

Weil also meine Eltern so viel unterwegs sind, sehe ich richtig viel von der Welt und kann ganz viele Erfahrungen und Sinneseindrücke sammeln.

Und jede neue Erfahrung, die man macht, lässt die Synapsen wachsen. Das sind Verbindungen im Gehirn, und je mehr man davon hat und je stärker sie sind, desto besser. Dann können sogar andere Gehirnzellen die Aufgaben von den Zellen übernehmen, die kaputt sind.

Therapeuteneltern

Natürlich wachsen die Synapsen auch durch die Therapien, die ich mehrmals in der Woche habe. Und natürlich machen Mama und Papa auch selbst Übungen mit mir. Aber als sie mich bekommen haben, wurden sie genauso wenig gefragt, ob sie Therapeuten werden wollen, wie ich, ob ich eine dystone Bewegungsstörung haben möchte. Und es hat auch keiner gefragt, ob sie das überhaupt können.

Meine Mama findet, dass sie das nicht besonders gut kann und hat sich am Anfang ziemlich verrückt gemacht, weil sie immer dachte, sie muss mehr Therapien mit mir machen und hat versucht, dreimal am Tag mit mir nach Vojta zu turnen, und war schon froh, wenn sie es einmal pro Tag geschafft hat. Und mein Papa hat schon immer mit mir geturnt und rumgetobt, einfach so aus dem Bauch heraus. Da konnte ich meinen Körper richtig gut spüren und kennenlernen.

Es gibt Eltern, denen es praktisch im Blut liegt, Therapeuten zu sein, und die sich richtig ins Zeug legen. Sie stellen Trainingspläne für ihre Kinder auf (und halten sich auch daran) und stellen alles andere dafür zurück. Vor allem sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse. Solche Eltern verdienen großen Respekt!

Aber man muss nicht zu dieser Kategorie Eltern gehören, um sein Kind gut zu fördern. Heute weiß meine Mama, dass viele Wege zum Ziel führen, und jeder den richtigen Weg für sich und seine Familie finden muss. Und eigentlich mache ich sowieso die ganze Zeit von mir aus Übungen, man braucht mich nur zu beobachten und mich ein bisschen dabei zu unterstützen und zu lenken.

Es gibt eben ganz verschiedene Eltern, so wie jeder Mensch anders ist. Die einen können etwas gut, die anderen weniger, manche bemühen sich sehr, manche weniger. Manchen ist es wichtig, viele Übungen zu machen und das Beste aus ihren Kindern rauszuholen. Und es gibt Eltern, die das zwar auch so gut es geht versuchen, denen aber vor allem wichtig ist, dass ihr Kind Kind sein darf. Das sind meine Eltern. Und ich glaube, irgendwas haben sie richtig gemacht!

Ich weiß nicht, was ich jetzt alles könnte, wenn ich die geborenen „Therapeuten“-Eltern hätte. Vielleicht etwas mehr, aber das weiß keiner. Aber ich weiß ganz bestimmt, dass ich nicht so viel Freude am Leben hätte.

Und Freude am Leben, die Neugierde auf die Welt, neue Erfahrungen sammeln – all das sind Motoren, die mich antreiben, Neues zu lernen. Warum sollte ich versuchen, irgendwohin zu laufen, wenn ich es überhaupt nicht spannend finde oder sogar Angst davor habe, weil ich nie rausgekommen bin?

Ihr seht, es gibt sehr viele Sachen, für die ich wirklich dankbar sein kann! Bestimmt würden mir noch viel mehr einfallen.

Und jetzt du:

Wofür bist du dankbar? Ich lade dich ein, hier einen Kommentar zu hinterlassen, in dem du mindestens eine Sache aufzählst, für die du dankbar bist. Auch und gerade, wenn du vielleicht findest, dass du es im Leben – oder mit deiner Situation in der aktuellen Krise – nicht so gut getroffen hast.

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