Wunschdenken oder mütterliche Intuition?
Heute melde ich mich mal wieder als Mama von Lenchen zu Wort, denn mehr als je zuvor wünschte ich bei diesem Thema, in ihren Kopf schauen zu können.
Wir sind dabei, eine Schule für unsere Tochter auszuwählen, und es bleibt nicht aus, dass alle möglichen Fachleute – gefragt oder ungefragt – Einschätzungen über ihre Intelligenz abgeben und darüber, was sie in ihrem Leben einmal erreichen kann – und was nicht.
Im motorischen Bereich ist das nicht viel. Klammere ich mich als Mama deshalb an eine unberechtigte Hoffnung, dass sie wenigstens kognitiv was auf dem Kasten hat? Dass sie einmal irgendeiner geistigen Aufgabe nachgehen kann – sie muss ja nicht gleich der nächste Steven Hawking werden.
Ist es Wunschdenken oder meine – richtige – Intuition als Mama, die ihr Kind doch am besten kennt, dass sie mehr im Köpfchen hat, als sie aktuell zeigen kann oder will?
Muss man physische Grenzen der Intelligenz akzeptieren?
Bei Kindern mit Zerebralparese wird leider meist automatisch davon ausgegangen, dass sie eine unterdurchschnittliche Intelligenz haben. Wahrscheinlich liegt es nahe, dass sich eine Gehirnschädigung auch in diesem Bereich auswirkt, aber es muss nicht sein.
Leider hat Lenchen durch ihre schweren motorischen Einschränkungen, ihre Nonverbalität und ihren ständigen Kampf gegen körperliche Widrigkeiten nur sehr begrenzte Möglichkeiten, sich auszudrücken oder oft auch schon, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren oder mit der Augensteuerung ein Feld am Talker auszulösen.
Aber sie kann es, und wenn sie in der richtigen Tagesform ist und in bestimmten Situationen, wie der Therapie oder Frühförderung, dann macht sie das auch und löst kleine Aufgaben richtig. Das sind aber leider eher die Ausnahmen als die Regel.
Muss ich akzeptieren, dass mein Kind nur so intelligent ist, wie seine körperliche Konstitution es zulässt?
Alles nur Einbildung?
Oft habe ich das Gefühl, dass es bei Lenchen noch nicht richtig klick gemacht hat, was die Möglichkeit zur Kommunikation angeht, die ihr der Talker bietet. Wir als Eltern verstehen sie sehr gut, auch ohne Hilfsmittel, allein durch ihre Laute, Mimik und Blicke.
Wenn sie im geistigen Bereich auch nur ein bisschen nach ihrer Mama kommt, dann macht sie viel mit sich aus, ist viel mit ihren Gedanken beschäftigt, und der Versuch, diese anderen mitzuteilen, ist ihr vielleicht einfach nur zu mühsam. Wenn ich sie beobachte, meine ich das zu sehen – oder projiziere ich nur mich als Kind auf sie?
Unsere Tochter ist eine verdammt gute Beobachterin, ihr entgeht nichts. Sie kennt alle Strecken, die wir regelmäßig mit dem Auto fahren und merkt augenblicklich, wenn wir eine ungewohnte Abbiegung nehmen – oder eine gewohnte nicht nehmen.
Sie ist sehr sozial, möchte immer so viele Menschen wie möglich um sich haben, egal, ob Kinder oder Erwachsene. Sie studiert ihre Gesichter und erkennt sie beim nächsten Mal wieder. Sie merkt, wenn in einer Gruppe jemand plötzlich fehlt.
Sie liebt Erklärsendungen wie Sesamstraße, aber auch Checker Tobi und Anna und die wilden Tiere, die eigentlich für ältere Kinder sind, und unser Eindruck ist, dass sie alles aufsaugt, wie ein Schwamm.
Sie kann sich buchstäblich stundenlang allein beschäftigen, wenn es sein muss. So begnügt sie sich auf langen Autofahrten damit, aus dem Fenster zu schauen und – wie ich mir einbilde – die Gedanken schweifen zu lassen. Wenn da nur eine unterdurchschnittliche Intelligenz wäre, wäre das nicht viel zu langweilig? Oder ist es umgekehrt?
Wer glaubt an unsere Kinder, wenn nicht wir Eltern?
Versteh mich nicht falsch. Wenn ich glaubhaft überzeugt würde, dass ihr IQ bei unter 70 liegt, dann wäre das eben so. Dann würde ich sie ganz genauso lieben, und vielleicht würde es mir sogar etwas Druck nehmen, die richtige Entscheidung für sie zu treffen für eine Schule, auf der ihr Potenzial hoffentlich erkannt und bestmöglich gefördert wird.
Ich möchte nur nicht, dass mein Kind zu Unrecht unterschätzt wird, nur weil es nicht spricht und seine Bewegungen nicht steuern kann.
Ich freue mich wirklich, dass die Möglichkeit einer inklusiven Beschulung von unserer Regelgrundschule tatsächlich in Erwägung gezogen und geprüft wird, aber letztendlich wird es wohl darauf hinauslaufen, dass Lenchen auf einer Förderschule für geistige Entwicklung eingeschult wird, auch wenn dieser Stempel mir Bauchschmerzen macht, weil sie dort – so meine Hoffnung – am besten lernen kann zu kommunizieren, ihren Talker einzusetzen und zu zeigen, was sie draufhat. Man sagte mir, lieber später nach oben korrigieren statt nach unten. Ich hoffe, dass ein späterer Wechsel gegebenenfalls wirklich eine Option ist und dass mein Kind nicht abschaltet, weil es sich unterfordert und abgestempelt fühlt.
Ich erwarte nicht von meiner Tochter, dass sie Abitur, eine Ausbildung oder auch nur einen Abschluss macht, und weiß, dass das alles eher unrealistisch ist – aber ich will nichts davon ausschließen, denn ich finde, es ist meine verdammte Pflicht als Mama, an mein Kind zu glauben! Wer, wenn nicht ich??
Was meinst du? Inklusive Beschulung oder Förderschule? Was sind eure Erfahrungen? Ich würde mich freuen, wenn du sie in den Kommentaren teilst!
4 Gedanken zu “Next Steven Hawking – oder: Wie intelligent ist mein Kind wirklich?”
Liebe Nele,
was für ein wichtiger Beitrag! Aus der Ferne zu entscheiden, was für Lenchen richtig ist, werde ich nicht wagen.
Die Zweifel kenne ich dagegen nur zu gut. Jede kleinste Entscheidung. Grundshcule im Dorf oder Ganztagsscshule in der Stadt? Freie Schule?
Wo fühlt sich mein Kind wohl?
Kannst du mit Lenchen zum Tag der offenen Tür bei beiden Schulen mal anfragen?
Liebe Grüße,
Katharina
Liebe Katharina, vielen Dank. Bei uns ist die Auswahl ja sehr überschaubar. In der Regelschule waren wir schon zu Gast, das Feedback war positiv, aber ob die Gegebenheiten passen, wird noch geprüft. Einen Aufzug gibt es immerhin, der würde dann auch endlich mal benutzt werden 😀 In der Förderschule, die von der Entfernung eigentlich im Moment als einzige infrage kommt, wird es im Januar einen ausführlichen Beratungstermin geben. Liebe Grüße
Hallo! Jetzt muss ich auch endlich mal einen Kommentar schreiben. Ich finde drinen Beitrag sehr interessant und finde, du hast vollkommen recht: Wenn jemand an sein Kind glauben muss, dann die Eltern! Und da finde ich es auch überhaupt nicht schlimm, sondern vielmehr wichtig, sich (möglicherweise falsche) Hoffnungen zu machen. Schließlich muss man das Potential erstmal freilegen, um es zu fördern. Eigentlich geht es mir auch nicht anders, wenn ich Lena zum Turnen oder zum Musikunterricht schicke, weil ich glaube, das könnte was für sie sein. Da projiziere ich durchaus auch meine Hoffnungen auf sie. Aber natürlich ist es bei euch ungleich schwerer, eine verlässliche Rückmeldung zu bekommen. Deshalb ist eine funktionierende Kommunikation so ungeheuer wichtig. Ich hoffe, dass der Talker seinen wahren Nutzen noch entfaltet und es, wie du sagst, erstmal Klick machen muss. Lena liebt übrigens auch Anna und Checker Tobi – genau wie ich! Ganz liebe Grüße und frohe Weihnachten!
Lieben Dank für deine aufbauenden Worte, Anja! Ja, vermutlich ist es generell nicht einfach, den goldenen Mittelweg zu finden zwischen übertriebenen Ambitionen und Unterforderung – oder Unterförderung – des Kindes. Ich denke auch, im Moment ist die Kommunikation wirklich das A und O, und das wird sie definitiv auf der Förderschule am besten lernen. Ich hoffe, dass ihre Potenziale dann besser eingeschätzt werden können und die Regelschule sie gegebenenfalls auch später noch nehmen wird.